Die Sprache kann mehr als ich
Terézia Mora fällt gleich mit der Tür ins Haus. Schlimme Ereignisse, die mühselig zusammengehaltene Lebenskonstruktionen zerbersten lassen, gehören seit jeher zu ihren Spezialitäten: Schon auf der ersten Seite ihres neuen Romans „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ muss die Heldin einen Selbstmordversuch ihrer Mutter verkraften. Aber die junge Frau lässt sich nicht beirren: Noch als Schülerin beginnt Muna, in der Redaktion eines Magazins zu arbeiten und dort so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Der Fotograf und Französischlehrer Magnus übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus, und irgendwann klappt es dann mit ihm, aber nur für eine Nacht. Sieben Jahre später werden die beiden doch noch ein Paar, allerdings eines, das sich in eine Qual-Beziehung verstrickt.
In ihrem vielfältigen Werk gelingt es Mora immer wieder, die Abgründe ihrer Figuren zu einem großen literarischen Abenteuer zu machen. Die Schriftstellerin, 1971 in Sopron (Ungarn) geboren und Büchner-Preisträgerin 2018, debütierte 1999 mit den Erzählungen „Seltsame Materie“. In ihrem ersten Roman „Alle Tage“ (2004) stand ein weltfremder Übersetzer vom kriegsversehrten Balkan im Mittelpunkt. Für ihre Trilogie über den dauerverschwitzten, gutmütigen Diplom-Ingenieur Darius Kopp tauchte Mora zehn Jahre lang in dessen nerdige Psyche ein und lieferte zugleich eine scharfsinnige Analyse der westeuropäischen Verhältnisse nach der Jahrtausendwende. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009) lautete der ironische Titel von Band 1. Er war auf Kopps Funktion als Mitteleuropa-Vertreter einer amerikanischen Firma für drahtlose Kommunikation gemünzt. Ein Leistungsträger in Anzug und teurem Schuhwerk, der sich von früh bis spät verzettelte, Steuererklärungen versäumte, seine Ehefrau Flora übersah. Die Start-Up-Blase platzte, der selbstzufriedene Ingenieur stand mit über vierzig auf der Straße. Terézia Mora mutete ihrem liebenswerten, aber äußerst trägen Kopp dann den schlimmsten vorstellbaren Verlust zu: den Selbstmord seiner Frau Flora. Diese Erfahrung steckte dem gebeutelten Helden zu Beginn von Teil 2 in den Knochen. „Das Ungeheuer“, 2013 erschienen und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, handelte von Kopps Odyssee durch Ungarn, Georgien, Armenien, Albanien, Kroatien und Griechenland, Floras Urne und ihren Laptop im Gepäck. Den Schlussakkord ihrer Trilogie bildete „Auf dem Seil“ von 2019. Kopp war unterdessen in Sizilien gelandet und schlug sich als Fahrer und Pizzabäcker durch. Allerdings wurde er schon bald von der deutschen Provinz eingeholt, ausgerechnet auf dem Ätna. Dort traf Kopp auf seine Schwester Marlene: „Wie Gift“ durchsickerte den erklärten Familienphobiker die Begegnung, „als würde man mich mit Gewalt wecken“. Und einige Monate später stand prompt seine 17-jährige Nichte Lorelei in der Pizzeria. Mit ihr kehrte Kopp nach Berlin zurück und probierte ein neues Leben.
Imagination, ein schräger Humor, das Wissen um seelische Nöte und die verblüffenden Ausformungen der Wirklichkeit geraten bei Terézia Mora immer wieder in ein reizvolles Spannungsverhältnis. Das mag auch daran liegen, dass im Untergrund immer eine zweite Sprache mitschwingt, eine zweite literarische Tradition: Ungarn. Mora hat Péter Esterházy, István Örkény, László Darvasi, Attila Bartis, Zsófia Bán und viele andere ins Deutsche übersetzt. Jede Sprache bietet ein anderes Instrumentarium zur Welterkenntnis und gewinnt der Wirklichkeit neue Schattierungen ab. Von nichts anderem handeln Terézia Moras Romane.
Maike Albath
aktuell: Muna oder Die Hälfte des Lebens. Roman. Luchterhand. München, 30. Aug 2023