Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfällt, hatte der Dichter Yevgeniy Breyger das Manuskript seines dritten Gedichtbandes fast bis zur Druckreife gebracht. Mit Beginn des Krieges, der den 1989 in Charkiw Geborenen unmittelbar betrifft, wurde ihm klar, dass er das Manuskript mit seiner „barocke[n] sprache / fern von alltag, handwerklich meisterklasse“ nicht veröffentlichen wollte, weil sich darin „kein wort zum krieg“ fand. Das konnte, wollte Breyger nicht vor sich selbst verantworten. Er setzte neu an, schrieb Gedichte, die sich in der Dringlichkeit und ihrer autobiografischen Redeweise stark von denen der vorangegangenen Bände unterscheiden. In „Heimkern“, dem ersten der drei Kapitel, erinnert sich Breyger seiner jüdisch-ukrainischen Vorfahren, von denen etliche die Massaker von Babyn Jar, Flucht und Vertreibung überlebt haben, und deren Kinder nun erneut Willkür und Gewalt ausgesetzt sind. Die Erinnerung und Ansprache der Familienmitglieder verbindet sich mit dem Gefühl von Scham, einem „krieglein gegen sich selbst“, der Frage nach der Position und Legitimation des eigenen dichterischen Sprechens: „abends sitz ich im restaurant und sprech ein wenig russisch da fällt mir ein, 2 sprachen sprech ich jetzt deutsch, russisch, einmal die, die meine leute massengemordet einmal die, die in deren fußstapfen treten wollen und meine andren leute umbringen.“
Die anschließenden Zyklen „Streuobst“ und „Aprillen“ reflektieren diese Position von einer anderen Warte aus. Die zentrale Folie des dreisprachig – deutsch, englisch und russisch – verfassten dritten Zyklus‘ ist T. S. Eliots „The Waste Land“ von 1922, als Echo auf den 1. Weltkrieg. In der dichterischen Auseinandersetzung mit diesem epochalen Langgedicht ordnet sich Breyger ein in die Tradition moderner Anti-Kriegslyrik von höchstem Rang. (B. T.)
In der Übersetzer:innenwerkstatt spricht Yevgeniy Breyger ebenfalls über seinen aktuellen Gedichtband: „Frieden ohne Krieg“ ist geprägt von der Auseinandersetzung mit zwei Muttersprachen Deutsch und Russisch, die der Autor als russischsprachiger ukrainischer Jude nun als kontaminiert begreift.
Auszeichnungen u.a.: Selma Meerbaum-Eisinger Literaturpreis (2011), Leonce-und-Lena-Preis (2019), Stipendium im Herrenhaus Edenkoben, Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2020), Lyrikpreis Meran (2021), Stipendium Villa Massimo, Rom, Translator in Residency Lancaster University (2022), manuskripte-Preis des Landes Steiermark, Stadtschreiber Helsinki, Mondseer Lyrikpreis (2023).
Veröffentlichungen (zuletzt):
– „flüchtige monde“, Gedichte,
kookbooks, Berlin 2016
– „Gestohlene Luft“, Gedichte,
kookbooks, Berlin 2020
– „Kryptomagie“, Gedichte, mikrotext, Berlin 2022
– „Frieden ohne Krieg“, Gedichte, kookbooks, Berlin 2023
Übersetzung (zuletzt):
– „Das brache, öde, wüste Land. 100 Jahre ‚The Waste Land‘ – eine Vorzeitbelebung“, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 98, Rigodon, Essen 2022