Filmische Porträts sind nicht nur Bestätigung, Huldigung und Public Relations. Dreharbeiten und Interviews, Kameras und Mikrofone setzen die Porträtierten auch mächtig unter Stress – langweilen oder nerven. So ergeht es auch dem Schweizer Schriftsteller Richard Wechsler, der Hauptfigur in Peter Stamms neuem Roman „In einer dunkelblauen Stunde“. Für die krisenanfällige Dokumentarfilmerin Andrea, zugleich Erzählerin des Romans, ist die Begegnung mit Wechsler in Paris so verstörend, dass sie sich lieber auf Nebenpfade begibt und frühe Weggefährt:innen Wechslers befragt. In ihren Recherchen spürt sie einer Jugendliebe des Autors nach, von der sie sicher ist, dass sie das Urbild zu dessen weiblichen Hauptfiguren abgibt. Die Begegnung der beiden Frauen entwickelt sich zu einem eigenen Kammerspiel. Man ginge dem 1963 in der Schweiz geborenen Peter Stamm auf den Leim, wollte man in Wechsler ein autobiografisches Spiegelbild des Autors suchen. Doch wer diesen von früheren Auftritten beim Erlanger Poetenfest ein wenig kennenlernen konnte, kommt gleichwohl nicht umhin, in diesem durchaus selbstironisch inszenierten, subtilen und raffiniert komponierten Künstlerroman Verwandtschaften zwischen literarischer Figur und dem Autor nachzugehen. Schließlich ist zeitgleich zum Roman tatsächlich ein Dokumentarfilm über Peter Stamm entstanden, der anlässlich des Poetenfests in den Lamm-Lichtspielen zu sehen ist. Worin die Parallelen liegen? Auch das wird eine Frage des Publikums wie des Moderators nach der Lesung sein. Um sich im gleichen Atemzug aufs Neue in die Irre führen zu lassen, was für eine eingehende Lektüre dieses wundervollen Romans nur von Vorteil ist. (H. St.)
Auszeichnungen u. a.: Rauriser Literaturpreis (1999), Rheingau Literaturpreis (2000), Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, Thurgauer Kulturpreis, Kulturpreis der Stadt Winterthur (2003), Premio Calàmo (2004), Kulturpreis der Stadt Zürich (2009), Mainzer Stadtschreiber (2013), Friedrich-Hölderlin-Preis (2014), Johann-Friedrich-von-Cotta-Literaturpreis (2017), Solothurner Literaturpreis, Schweizer Buchpreis (2018).
Veröffentlichungen (zuletzt):
– „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2018– „Marcia aus Vermont“, Eine Weihnachtsgeschichte, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019
– „Wenn es dunkel wird“, Erzählungen, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2020
– „Das Archiv der Gefühle“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2021
– „In einer dunkelblauen Stunde“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2023