Ein Gerichtsprozess ist immer auch eine Aussage über das Land, in dem er stattfindet und über die Gesellschaft, die ihn bewerkstelligt. Und schließlich auch über den Zustand der Demokratie. Kathrin Röggla nimmt sich in ihrem Roman „Laufendes Verfahren“ den NSU-Prozess vor und überführt ihn in eine packende narrative Konstellation. Die Autorin erzählt im Präsens, wählt ein chorisches Wir und rückt nah an die Geschehnisse heran. Kann man Verbrechen dieser Art juristisch überhaupt beikommen? Röggla skizziert nicht nur die Abläufe, schildert Zeug:innenbefragungen, Sitzordnungen und Lichtverhältnisse, sondern bezieht die Position der Erzählinstanz und die Umstände auf dem Beobachter:innenposten mit ein. Das Ganze gewinnt einen starken Sog und kippt mitunter ins Groteske, was einen subversiven Effekt hat. Das bundesrepublikanische Sittenbild ist von Leuten wie dem besserwisserischen O-Ton-Juristen, nimmermüden Erklärburschen, der zornigen Vornamenyildiz, der Omagegenrechts oder dem Bloggerklaus bevölkert.
Seit ihrem Debüt mit „Niemand lacht rückwärts“ (1995) hat Kathrin Röggla, 1971 in Salzburg geboren und mittlerweile Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule Köln, in zahlreichen Romanen, Theaterstücken und Hörspielen ihr feines Ohr unter Beweis gestellt und immer auch Sprachkritik betrieben. Erzählen ist für sie politisch. Auch in ihrem neuen Roman rückt Kathrin Röggla der Gegenwart zu Leibe und provoziert überraschende Erkenntnisschübe. (M. A.)
Auszeichnungen u. a.: Alfred-Döblin-Stipendium (1995), New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2001), Ernst-Nossack-Förderpreis (2003), Bruno-Kreisky-Preis (2004), Solothurner Literaturpreis, Anton-Wildgans-Preis (2009), Nestroy-Theaterpreis (2010), Mainzer Stadtschreiberin, Arthur-Schnitzler-Preis (2012), Österreichischer Kunstpreis für Literatur (2020), Else-Lasker-Schüler-Preis (2022), Heinrich-Böll-Preis (2023).
Veröffentlichungen (zuletzt):
– „die alarmbereiten“, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010
– „Nachtsendung“, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2016
– „Bauernkriegspanorama“, Essay, Verbrecher Verlag, Berlin 2020
– „Ausreden. Rausreden, Auserzählen, Abschreiben“, Essay, Droschl, Graz 2022
– „Laufendes Verfahren“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2023