Über das Suchen und Finden
„Meine künstlerische Entwicklung wurde nicht nur von Weltliteratur vorangetrieben, sondern ganz wesentlich auch von Abfall, von Hingeschmiertem und Verworfenem.“ So steht es in Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“ (2023). In seinem autobiografischen Buch erzählt er nicht nur von mühsamen schriftstellerischen Anfängen und beruflichen und privaten Umwegen, sondern von seiner heimlichen Leidenschaft, die ihn stark prägte: Jahrzehntelang ging er in Wien auf Beutezüge und durchforstete die Altpapiercontainer der Stadt. Dieses Doppelleben als bekannter Schriftsteller und unbekannter Altpapierdurchwühler gibt er nun preis, und schnell wird klar: Die beiden Tätigkeiten griffen nicht unerheblich ineinander. Wenn er anfangs noch loszog, um hochwertige Bücher, Drucke und Postkarten herauszufischen, die er gewinnbringend verkaufte, um sein Studium zu finanzieren, so wandelte sich der Umgang mit den Fundstücken im Laufe der Zeit: Die Dokumente, die er herauszog, wurden immer bedeutsamer für sein Schreiben. Er studierte den direkten Ton und die ungekünstelte Sprache in alten Briefen und Tagebüchern, er las ungeschönte Episoden aus dem echten Leben – all das floss in seine Bücher ein.
Arno Geiger, geboren 1968 in Bregenz, gehört längst zu den wichtigsten und erfolgreichsten Schriftstellern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Doch war es ein ziemlich steiniger Weg, auch davon erzählt er in seinem neuen Buch. Die literarische Bühne betrat er 1996 beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, ein Jahr später kam sein Debüt heraus: „Kleine Schule des Karussellfahrens“ (1997). Doch die ersten Titel blieben kommerziell wenig erfolgreich, auch „Irrlichterloh“ (1999) und „Schöne Freunde“ (2002). Also finanzierte er Studium und Schreiben als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen und durchforstete – wie wir jetzt wissen – die Wiener Altpapiercontainer.
Seit dem Deutschen Buchpreis 2005 für den Familienroman „Es geht uns gut“ wird jedes seiner Bücher sehnlichst erwartet, breit besprochen und viel gelesen. Ob es der Eheroman „Alles über Sally“ (2010) war oder „Selbstporträt mit Flusspferd“ (2015), in dem er von einem Umbruch nach einer Trennung erzählt, der Zweite Weltkriegs-Roman „Unter der Drachenwand“ (2018) oder sein berührendes „Der alte König in seinem Exil“ (2011) über die Demenz seines Vaters – mit seinem autobiografischen, unverstellten Blick eine Art Schwesterbuch zu „Das glückliche Geheimnis“.
Nun ist das glückliche Geheimnis gelüftet und mit diesem Wissen lässt es sich kaum vermeiden, dass man sein Werk von nun an mit anderen Augen liest: Überall, wo Papier auftaucht, denkt man unweigerlich an Arno Geiger, den Altpapiersammler. Wenn Philipp in „Es geht uns gut“ (2005) die Familienvilla entrümpelt und alte Briefe und Dokumente vom Dachboden entsorgt. Oder wenn Geiger in den historischen Roman „Unter der Drachenwand“ über den kriegsverletzten Soldaten Veit Kolbe Tagebücher und Briefe einbaut. Das grundsätzliche Nachdenken über das Thema Ressourcen springt nun auch ins Auge – es zieht sich wie ein roter Faden durch all seine Bücher: Wen oder was lässt man in sein Leben, wen oder was wie nah an sich heran? Wovon befreit man sich, was kann man buchstäblich „entsorgen“? Wie geht man mit den eigenen Kräften und der kostbaren Zeit um? Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Wegwerfen als Kulturtechnik hat Arno Geiger für solche Fragen sensibilisiert. Denn das, was man tue, so Geiger, füge immer etwas zur Persönlichkeit hinzu.
Anne-Dore Krohn
aktuell: Das glückliche Geheimnis. Roman. Hanser. München, Jan 2023